Ich sage Nein! Jungs gegen sexualisierte Gewalt
Seit einigen Jahren organisieren wir an der Mittelschule Obermais den Projektunterricht “Ich sage Nein!” für die Schülerinnen der dritten Klassen. Dabei kommen externe Expertinnen, Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser, um spezifisch mit den Mädchen zu arbeiten. In den Workshops geht es um Selbstbestimmung als Mädchen/Frauen, um Selbstbewusstsein, Selbstschutz, Selbstverteidigung, Zivilcourage und Solidarität, speziell auch in Bezug auf sexualisierte Gewalt.
Parallel dazu arbeite ich als Schulsozialpädagoge mit den Jungs zu denselben Themen, aber aus der Perspektive als Mann. Ich leite die Schüler dazu an, Qualitäten von Männlichkeit (selbst-)kritisch zu befragen, um Sensibilität und Zivilcourage gegen (sexualisierte) Gewalt zu erspüren und zu erüben.
Bei den Übungen merke ich immer wieder, wie stark Männlichkeit in unserer Gesellschaft immer noch an die Fähigkeit geknüpft ist, Gewalt auszuüben, andere Menschen abzuwerten, Feindlichkeit gegen Andere (etwa gegen FLINTA* und gegen schwule Männer) auszuüben.
Ich bin froh, dass ich mit den Jugendlichen dazu reflektieren kann und wünschte, damals hätte jemand mit mir vertrauenswürdige Gesprächsräume zu diesen Themen eröffnet. Ich war selbst stark in sexistischen Mustern verhangen und es gab kaum Alternativen zu den patriarchalen Gewalt-Traditionen. Diesbezüglich scheint sich wenig geändert zu haben.
Eine Erfahrung ganz frisch aus einem der Workshops: Jungs haben teilweise frauenfeindliche und homofeindliche Aussagen getätigt. Zugleich gaben sie (alle Schüler waren weiß) an, dass sexualisierte Gewalt in erster Linie von “ausländischen Männern” verübt würde. Kaum einer der Jungs wusste, dass sexualisierte Gewalt meist durch enge Bezugspersonen verübt wird, in der Familie, im Verein, in der Kirche, in der Betreuungsstätte, in der Schule, im Altersheim … Kaum jemand wusste, dass Sexismus/sexualisierte Gewalt in der ganzen Gesellschaft vorkommt, transversal durch alle gesellschaftlichen Klassen. Der rassistische Reflex, dieses primär männliche Gewaltproblem auf “Ausländer” abzuschieben, war in der Gruppe sehr stark und ein einfacher Weg, eigene Verantwortung abzuladen.
Es tut mir sehr leid zu sehen, dass Projektunterricht durch Expert:innen im Bereich Sexualpädagogik und Gewaltprävention in Südtirol nicht flächendeckend gefördert wird.
Ich weiß, dass Sexualität und sexualisierte Gewalt in vielen Familien immer noch große Tabu sind und viele Kinder und Jugendliche zu diesen Themen primär durch Pornografie “unterrichtet” werden.
Gerne möchte ich diese beiden Bücher zum Thema empfehlen:
Wir brechen das Schweigen. Betroffene sprechen über sexuellen Missbrauch.
von Veronika Oberbichler, Georg Lembergh
Männer, Männlichkeit und Liebe. Der Wille zur Veränderung von bell hooks
Auch diesen Podcast empfehle ich:
Stachel und Herz - kritische Männlichkeit
Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt erfahren haben: Sie sind nicht allein! Melden Sie sich vertraulich bei Familienberatungsstellen, bei Frauen Gegen Gewalt, bei Frauen Helfen Frauen oder in Akutsituationen auch gleich unter Notruf 112. Dasselbe gilt, falls Sie Menschen in Ihrem Umfeld kennen, die von Gewalt betroffen sind. Schauen wir nicht weg. Schauen wir hin. Nennen wir Gewalt beim Namen. Sichern wir Unterstützung. Durchbrechen wir die Mauern des Schweigens.
Gerne können Sie sich bei Bedarf oder Interesse auch bei mir melden, um das Thema zu vertiefen.
Ivo Passler
Schulsozialpädagoge SSP Meran Obermais
Tel. +39 331 315 3103
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*FLINTA: Die Abkürzung steht für Frauen, Lesben sowie intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender (also geschlechtslose) Personen.